Barrieren simulieren

Vom Mitleid zur Lösung: Warum wir Barrieren, nicht Behinderungen simulieren sollten

Das Problem

Die Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Wir alle sagen, dass uns Inklusion am Herzen liegt. Aber wenn man sich die Welt anschaut, dann sieht die Realität oft anders aus. 

Websites werden von Menschen gestaltet, die selbst nie mit den Barrieren konfrontiert sind, die sie erschaffen. 

Warum? Wer problemlos mit der Maus navigieren kann und Farben klar erkennt, macht sich kaum Gedanken über Kontraste oder Tastaturbedienbarkeit.

Ausgrenzung ist selten böswillig. Meist ist es schlicht Ignoranz auf Autopilot.

Empathy Gap: Warum wir Barrieren übersehen

Dieses Phänomen nennen wir die „Empathy Gap”: die Unfähigkeit, sich in Menschen mit Behinderungen hineinzuversetzen und die Barrieren zu erkennen, mit denen sie täglich konfrontiert sind. Doch seien wir ehrlich: Die meisten Menschen interessieren sich erst für Probleme, wenn sie selbst betroffen sind.

Wir haben die Annahme von „Mir passiert das schon nicht“, bis es doch so weit ist. Ein gebrochener Arm, nachlassende Sehkraft im Alter, situative Einschränkungen oder ein unerwarteter Unfall. 

Behinderung ist der inklusivste Club der Welt. 

Simulation von Behinderung

Wie Simulationen Bewusstsein schaffen

Um die Empathy Gap zu schließen, setzen viele auf das Simulieren von Behinderungen. Typische Methoden sind:

Warum funktionieren Simulationen von Behinderung?

  • Greifbarkeit: Statt trockener Richtlinien ein echtes Erlebnis.
  • Fehler aufdecken: Plötzlich wird klar, warum fehlende Alt-Texte oder mangelnde Kontraste problematisch sind.
  • Emotionaler Impact: Nichts überzeugt Entwickler:innen mehr, als selbst an einer simplen Formular-Eingabe zu scheitern.

Die Probleme von Behinderungs-Simulationen

Behinderungen sind vielfältig

Eine Simulation kann immer nur einen spezifischen, temporären Ausschnitt darstellen, nie die Vielfalt der Erfahrungen. Zwei Menschen mit derselben Diagnose (z. B. diabetische Retinopathie) können völlig unterschiedliche Erfahrungen haben.

Temporäres Erleben ≠ gelebte Realität

Eine Stunde im Rollstuhl lehrt dich… eine Stunde im Rollstuhl zu verbringen. Worüber du nichts lernst:

  • Der Aufwand, jeden Weg im Voraus planen zu müssen 
  • Kaputte Aufzüge
  • unzugängliche Busse, Bahnen und andere Transportmittel
  • Rollstühle werden zu oft von Airlines zerstört
  • Bürokratie im Gesundheitswesen
  • Diskriminierung
  • ggf. Intersektionalität: wenn weitere Diskriminierungsformen hinzu kommen, wie Rassismus oder Sexismus

Mitleid statt Lösungen

Simulationen können verzerrt wirken. Sie können den Eindruck erwecken, eine Person mit Behinderung sei unfähig, nur weil du in der Simulation nicht zurecht kommst. Aber Menschen mit Behinderung haben den Umgang mit ihrer Behinderung geübt und den entsprechenden Kontext. Sie sind sehr kompetent.

Simulationen können zu falschen Schlussfolgerungen führen, wie 

  • „Wow, behindert sein ist so schwer!“ → Mitleid
  • „Alle Blinden nutzen Screenreader!“ → Stereotype

Unsimulierbare Realitäten

Nicht alle Behinderungen können simuliert werden. Wie will man chronische Schmerzen oder Mobilitätseinschränkungen realistisch simulieren? 

Oft entstehen dadurch „Lösungen“, die echten Betroffenen nicht helfen, oder sogar neue Barrieren schaffen. Es wird für die Simulation designt, anstatt für Menschen.

Ethische Fragen

  • Medizinisches Modell vs. soziales Modell: Simulationen suggerieren oft, das „Problem“ liege bei der Person, nicht beim System. Diese Sichtweise ist sehr problematisch!
  • „Behinderung Cosplay“: Ist es okay, sich für Bildungszwecke als behindert zu „verkleiden“? Viele Betroffene empfinden das als respektlos.

Fazit: Simulationen sind nur ein erster Schritt

Sie können Awareness schaffen, aber:

  • Ersetzen kein Nutzer:innen-Feedback.
  • Dürfen nicht zu Pauschallösungen führen.
  • Müssen immer kontextualisiert werden mit Input von Betroffenen.

Die Lösung

Zuhören

Die wahre Lösung, um den Empathy Gap zu schließen, ist so einfach wie wirkungsvoll: Zuhören. Es geht um zuhören, lernen und sich dazu verpflichten, Barrierefreiheit als Standard zu etablieren. Die Empathy Gap schließt sich nicht durch Simulationen, Mitleid oder Rätselraten. Es geht darum, Menschen mit Behinderung in den Fokus zu stellen, sei es im Design, der Entwicklung oder im Management.

Menschen mit Behinderung anstellen

Vorteile

Hole Menschen mit Behinderung in dein Team. Das sorgt nicht nur, dass Barrierefreiheits-Probleme von Anfang an entdeckt werden, sondern es hat auch noch weitere Vorteile:

  • diversere Sichtweisen in Teams
  • erhöhte Anpassungsfähigkeit
  • höhere Mitarbeiterbindung und -zufriedenheit
  • bessere Unternehmenskultur und vieles mehr.

Wenn behinderte Menschen Teil des Prozesses sind, dann werden Designs frühzeitig getestet, es gibt mehr Innovationen und wir alle gewinnen. Ein Beispiel ist der abgesenkte Bordstein, der ursprünglich für Rollstühle entwickelt wurde, wir aber alle nutzen.

Vom „Checklisten-Denken“ zur gelebten Inklusion

Barrierefreiheit darf kein Add-on sein, das man „irgendwann“ einbaut. Sie muss von Anfang an mitgedacht werden. Das gelingt nur, wenn Menschen mit Behinderungen Teil des Prozesses sind, im Design, Entwicklung und beim Treffen von Entscheidungen.

Drei konkrete Schritte für dein Team:

  1. Stelle Menschen mit Behinderungen ein: nicht für die Quote, sondern als wertvolle Expert:innen.
  2. Teste mit echten Nutzer:innen 
  3. Etabliere Barrierefreiheit als die neue Norm. Barrierefreiheit ist Voraussetzung für ein gutes Design. 

Das inklusivste Produkt entsteht nicht durch Mitleid, sondern durch Mitgestaltung.

Jetzt handeln:

  • Wie viele Menschen mit Behinderungen arbeiten in deinem Team?
  • Wann testet ihr eure Produkte das nächste Mal mit einer inklusiven Zielgruppe?

Die Herausforderungen – und warum sie sich lohnen

Ja, Menschen mit Behinderung anzustellen, beansprucht Zeit und Arbeit. Aber weißt du was? Ein nicht barrierefreies Produkt nachträglich anzupassen bedeutet noch viel mehr Zeit und Arbeit und ist zudem viel teurer.
Wie willst du für Menschen designen, die du nicht in deinem Team haben willst? Empathie lässt sich nicht outsourcen. Sie muss im Unternehmen verankert sein. 

Es geht nicht um Almosen-Anstellung, es geht darum, den Empathy Gap zu schließen, wo es am wichtigsten ist: Beim Gehalt.

Was machen wir aber in der Übergangszeit, bis wir Menschen mit Behinderung angestellt haben? Ich denke, da ist noch Platz für einen weiteren Ansatz. Dieser kann zwar nicht Gespräche mit behinderten Menschen ersetzen, aber er hat einige Vorteile gegenüber der Simulation von Behinderung.

Simulieren von Barrieren

Hier werden wir uns ein Beispiel anschauen, um zu zeigen, was der Unterschied zwischen Barrieren und Behinderungen simulieren ist und warum ich denke, dass das der bessere Ansatz ist.

Beispiel

Eine einfache und primitive Art, eine Sehbehinderung zu simulieren, ist das Aufsetzen von Simulations-Brillen. Wir können eine wählen, die das äußere Sichtfeld abschirmt, sodass nur ein kleiner Sehrest in der Mitte des Blickfeldes übrig bleibt. Wenn eine Webentwickler:in diese Brille benutzt, fällt ihr vielleicht auf, dass sie die Breite des Browsers verkleinern muss und die Anwendung nicht mobil optimiert ist. Aber hier haben wir wieder das Problem wie zuvor beschrieben: Der Fokus liegt darauf, sich auf “die Behinderung anzupassen”, anstatt auf der Barriere im System.

Was wäre eine Barrieren-Simulation für diesen Fall?

Was, wenn wir eine Webseite bauen, die einwandfrei funktioniert in mobiler Ansicht, aber die Inhalte völlig unlesbar werden auf einem Standard Desktop? So wie hier:

Die Inhalte verschieben sich unvorhersehbar im Desktop-Format, aber alles ist gut lesbar in der mobilen Ansicht.

Vorteile Barrieren Simulation

Menschen müssen nicht ihre Perspektive ändern. Sie müssen nicht “so tun als ob” sie eine Behinderung haben, sie sind nur frustriert auf die Art, wie sie normalerweise das Internet nutzen. Das Problem sind nicht sie selbst, sondern das kaputte Design.

Statt zu denken “Wow, eine Sehbehinderung zu haben, muss echt schwer sein”, denken sie “Das Layout ist schrecklich”. Mit der Simulation von Behinderung fokussieren wir Mitleid und das “Anpassen an die Behinderung”. Hingegen geht es bei der Barrieren Simulation um das Problem der Barriere und dass wir unser Design verbessern müssen. Wir müssen etwas ändern!

Probleme mit Barrieren Simulation

Nicht alles ist simulierbar

Nehmen wir die Simulation von Farbblindheit als Beispiel. Wir können einen Filter über eine Website legen und Farbblindheit simulieren. Wenn wir jetzt das Prinzip von Barrieren simulieren anwenden, stoßen wir auf ein Problem. Es ist nicht möglich, eine Webseite so zu ändern, dass eine Farb-Barriere hinzugefügt wird, für Menschen alle Farben sehen können.

Fazit

Barrieren simulieren ist kein Ersatz für behinderte Perspektiven. Es ist ein Ansatz, um Teams dazu zu bringen, diese Perspektiven zu suchen. 

Vergleich

Fehlgeleitete Lösungen

Die Simulation einer Behinderung führt oft zu Lösungen, die realen Nutzenden mit Behinderungen nicht helfen. Weil die Simulation auf Annahmen und nicht auf gelebter Erfahrung basiert.

Barrieresimulationen vermeiden dies, da das Problem nicht an eine bestimmte Behinderung gebunden ist. Anstatt eine „Lösung“ vorzuschlagen, regt sie uns lediglich dazu an, Barrieren und Barrierefreiheit anders zu betrachten.

Kontroverse & Ethik

Das nächste große Thema ist natürlich die Kontroverse. Ehrlich gesagt kann ich nicht mit Sicherheit sagen, ob dieser andere Ansatz frei von Kontroversen ist. Es gibt ein gutes Argument dafür, dass wir immer noch versuchen, einen Teil der Lebensrealität von Menschen mit Behinderungen zu simulieren, ohne das Gesamtbild zu reflektieren. Ich stimme diesem Argument zu und werde deshalb stets darauf bestehen, dass die einzige wirkliche Lösung für die Empathy Gap darin besteht, mit Menschen mit Behinderungen zu arbeiten und ihnen zuzuhören.

Fokus

Meine Antwort konzentriert sich daher darauf, warum ich denke, dass die Simulation von Barrieren den Fokus zumindest nicht auf die Behinderung verlagert. Sie stellt Menschen mit Behinderungen nicht als „das Problem“ in den Mittelpunkt, sondern lenkt die Aufmerksamkeit auf die von uns entwickelten Produkte und die damit verbundenen Barrieren. Der Fokus liegt weiterhin auf defekten Systemen, nicht auf individuellen Behinderungen.

Deshalb denke ich, dass dieser Ansatz möglicherweise nützlicher ist, um das Denken und die Überlegungen anzuregen, die wir von Designer:innen und Entwickler:innen erwarten.

Zweck

Mein persönliches Fazit ist, dass diese beiden Konzepte sehr nützlich sein können, wenn sie in der richtigen Situation angewendet werden. Sie dienen sehr unterschiedlichen Zwecken. Wenn du ein spezifisches Barrierefreiheitsproblem hervorheben möchtest, kann eine simulierte Behinderung sehr hilfreich sein, um das Verständnis sowohl für technische als auch für nicht-technische Personen zu verbessern.

Wenn du die Art und Weise ändern möchtest, wie wir über Barrieren und Behinderung denken, könnten simulierte Barrieren deutlich wirkungsvoller sein.

Jetzt bist du dran

Möchtest du selbst digitale Barrieren erleben? Dann kannst du das in diesem Escape Game über digitale Barrierefreiheit machen. 

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