Intersektionalität und digitale Barrierefreiheit: Wenn Diskriminierungen sich überschneiden
Der Workshop von Landu Malambu über Intersektionalität im Kontext digitaler Barrierefreiheit hat mich nachhaltig zum Nachdenken gebracht.
Im Anschluss an den Workshop habe ich nach konkreten Beispielen gesucht, bei denen erst das Zusammentreffen mehrerer Diskriminierungen ein Problem schafft. Ein Problem, das nicht existieren würde, wenn nur eine Diskrinierungsform auftreten würde.
Was bedeutet Intersektionalität?
Intersektionalität beschreibt die Überschneidung mehrerer Diskriminierungsformen. Dadurch entstehen einzigartige Barrieren, die oft unsichtbar bleiben. Geprägt wurde der Begriff durch Kimberlé Williams Crenshaw, eine US-amerikanische Juristin, Bürgerrechtsaktivistin und Mitbegründerin der Critical Race Theory.
In den späten 1980er Jahren machte Crenshaw eine entscheidende Beobachtung: Das US-Rechtssystem erkannte die Diskriminierung Schwarzer Frauen nicht an.
Der Fall DeGraffenreid vs. General Motors (1970er Jahre)
General Motors entließ im Zuge von Massenkündigungen fast ausschließlich Schwarze Arbeiterinnen. Es folgte eine Klage, die das Gericht abwies mit der Begründung:
- Es gebe keine rassistische Diskriminierung, weil auch Schwarze Männer nicht betroffen waren.
- Es gebe keine sexistische Diskriminierung, weil weiße Frauen nicht entlassen wurden.
Das Paradoxe war, dass Schwarze Frauen durchs Raster fielen. Ihre Kombination aus Rassismus und Sexismus wurde juristisch nicht anerkannt.
Crenshaws Lösung: Intersektionalität
Mit ihrem Konzept der „Intersectionality“ (deutsch: „Intersektionalität“) zeigte Crenshaw:
- Diskriminierungen wirken nicht isoliert, sondern überschneiden und verstärken sich.
- Gerichte müssen Mehrfachdiskriminierung als eigenständiges Problem begreifen.
Ihr Ansatz wurde zum Grundpfeiler des modernen Feminismus.
Beispiele für Intersektionalität in Bezug auf digitale Barrierefreiheit
Alt-Texte, die nicht übersetzt werden
Szenario
Eine Person nutzt Google Translate, um eine Website zu übersetzen. Gleichzeitig nutzt sie einen Screenreader. Wir gehen in diesem Fall davon aus, dass auf der Webseite gute Alt-Texte vorhanden sind und die Seite auch ansonsten barrierefrei ist.
Problem
Die Alt-Texte der Bilder werden nicht mit übersetzt, die Person erhält also keine Informationen über die Bilder.
Was wäre, wenn in unserem Szenario nur einer der beiden Punkte auf die Person zutreffen würde?
- Bei nur Screenreader-Nutzung (ohne Übersetzung) gäbe es Alt-Texte. Die Person würde alle Informationen bekommen.
- Bei nur Sprachbarriere (ohne Sehbehinderung) könnte die Person die Bilder sehen und benötigt keine Alt-Texte.
Intersektion: Sprachliche Diskriminierung und Ableismus.
Eye-Tracking: Dunkle Augen, schlechtere Erkennung
Szenario
Eye-Tracking-Software wird eingesetzt, um Nutzer:innen mit motorischen Einschränkungen zu unterstützen. Eine berühmte Person, die eine Zeit lang diese Software benutzte, war Stephen Hawking. Damit konnte er schreiben und sprechen.
Problem
Die Technologie wurde primär an weißen Probanden getestet und funktioniert bei dunklen Augen schlechter. Die Folge: People of Color mit Behinderungen werden doppelt benachteiligt.
Intersektion: Rassismus und Ableismus
Spracherkennung: Akzente und Dialekte scheitern
Szenario
Speech-to-Text-Tools sollen eigentlich Barrierefreiheit fördern. Sie helfen z.B. Menschen, die schlecht hören. So können sie besser an Gesprächen teilhaben. Auch für Menschen mit Legasthenie kann es hilfreich sein, auf Spracherkennungssoftware zurückzugreifen.
Problem
Spracherkennungssoftware funktioniert oft schlecht bei Akzenten, Dialekten oder nicht-dominanten Sprachen. Wer also nicht „standardisiert“ spricht, wird ausgeschlossen.
Intersektion: Linguistische Diskriminierung und Ableismus
Klassismus: Wer kann sich Barrierefreiheit leisten?
Assistive Technologien wie zum Beispiel der Screenreader JAWS sind sehr teuer aus der Sicht einer Privatperson. Zwar gibt es Hilfen und Zuschüsse, aber die Anträge werden oft abgelehnt, sodass Menschen mit Behinderung, die nicht das nötige Geld haben, ausgeschlossen werden. Von der Barrierefreiheit der Antragsformulare wollen wir gar nicht erst reden.
Intersektion: Klassismus und Ableismus
„Schöne“ Schriftarten vs. Lesbarkeit
Szenario
Um ehrlich zu sein, handelt es sich hier um ein etwas weit hergeholtes Beispiel. Ich möchte es trotzdem mit aufnehmen. Websites mit Frauen als Zielgruppe nutzen oft verschnörkelte „Kalligrafie-Fonts“. Diese sieht schön aus und passt in das Design. Besonders häufig sehe ich das bei Coaching-Websites.
Problem
Diese Schriften sind schwer lesbar, besonders für Menschen mit Dyslexie oder Sehbehinderungen. Hier kollidieren Geschlechterstereotype („Frauen mögen hübsche Schrift“) mit Zugänglichkeit.
Intersektion: Sexismus und Ableismus
Fazit: Barrierefreiheit muss intersektional gedacht werden
Diese Beispiele zeigen: Digitale Inklusion scheitert oft da, wo Diskriminierungen sich überschneiden.
Was wir daraus lernen
- Testen mit diversen Nutzer:innen (nicht nur „Standardfälle“).
- Technologien inklusiv entwickeln (z. B. Eye-Tracking für alle Augentypen).
- Barrierefreiheit von Anfang an mitdenken und vor allem vielfältige Menschen in den gesamten Entwicklungsprozess integrieren.
- Nicht nur eine Hürde abbauen, sondern das ganze System hinterfragen.
Diskussion
Welche weiteren Beispiele fallen dir noch ein oder hast du vielleicht schon selbst erlebt? Wie viel Wert legst du auf Intersektionalität und was kannst du für eine barrierefreie digitale Welt tun?